Erstmals können Blinde bei der Bundestagswahl am 22. September ihr Wahlrecht ohne fremde Hilfe ausüben. Kunststoffschablonen ermöglichen ihnen, ihr Kreuz selbst an der gewünschten Stelle auf dem Wahlschein zu plazieren.
In dieser – vom Bundeswahlleiter erstmals offiziell angebotenen –
Möglichkeit zur „freien, geheimen und gleichen Wahl“ sieht der Arbeitskreis Barrierefreies Internet e.V. (AKBI) „einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung“. Wie AKBI-Vorsitzender Jens Bertrams am Montag (16. September) in Marburg erklärte, reicht diese Regelung aber noch nicht aus: „Viele Körperbehinderte können ihr Wahlrecht erst eigenständig wahrnehmen, wenn zusätzlich zu den bisherigen Möglichkeiten die Abstimmung auch über das Internet erfolgen kann.“
Diese Online-Wahl, deren Erprobung in einzelnen Kommunen bereits stattgefunden hat, muss nach Überzeugung des blinden AKBI-Vorsitzenden aber barrierefrei durchgeführt werden: „Wir haben nichts gewonnen, wenn Blinde das Online-Formular nicht ausfüllen können oder es erst gar nicht im Internet erreichen.“
Von Kandidaten und Parteien erwartet Bertrams barrierefreie Informationsangebote: „Bei der aktuellen Bundestagswahl glänzten einige Parteien und Bewerber mit Webseiten, die für Blinde nicht handhabbar waren. Wer Behinderte bei seiner Informationspolitik übergeht, der kann auch nicht auf ihre Stimmen hoffen.“
Bundeskanzler Gerhard Schröder präsentiert sich den Wahlberechtigten in Flash-Technik. Auch die Wahlseiten des CSU-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber enthalten einige Barrieren für Blinde und Sehbehinderte. Die Internet-Auftritte der anderen Spitzenkandidaten sind entweder barrierefrei, oder sie bieten eine Nur-Text-Alternativversion an.
„Wir möchten genau die selben Informationen erhalten können wie jeder andere Wähler auch“, fordert Bertrams. Demokratie erweist sich nach seiner Überzeugung vor allem an ihrem Umgang mit den Schwächsten: „Wer Körperbehinderten beschwerliche Wege zum Wahllokal zumutet, das womöglich nur über Stufen erreichbar ist, oder wer Blinden wichtige Informationen vorenthält, der missachtet grundlegende Grundsätze des Grundgesetzes.“
Mit dem Behindertengleichstellungsgesetz, das am 1. Mai 2002 in Kraft getreten ist, und der am 24. Juli folgenden „Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung“ (BITV) habe die amtierende Bundesregierung wichtige Grundzüge für eine gleichberechtigte Teilhabe Behinderter an demokratischen Entscheidungen geschaffen. Umso betrüblicher findet Bertrams, dass Bundeskanzler Gerhard Schröders Wahlseiten erst nach einer Intervention des AKBI mit einer – leider auch nicht gelungenen – Nur-Text-Variante hinterlegt wurden: „Barrierefreie Webseiten sollten ebenso eine Selbstverständlichkeit sein wie der Respekt vor Behinderten in allen Bereichen der Gesellschaft.“