„Für unsere wissenschaftlichen Artikel bekommen wir ja sowieso schon seit Langem kein Geld“, klagt ein Forscher der Universität Leipzig. „Wenn wir aber einen Artikel unserer Kollegen benötigen, dann müssen wir dafür nicht nur bezahlen, sondern auch noch drei Tage lang warten, bis die entsprechende Bibliothek uns über Fernleihe einen Ausdruck zugeschickt hat. Das verzögert alle Arbeiten erheblich.“
Die Wartezeit hält der Mediziner für unnötig. Im Zeitalter der elektronischen Datenübertragung könnte das genauso gut in wenigen Minuten geschehen. Doch das verhinderten die Verlage, die mit den kostenlos eingereichten Artikeln der Wissenschaftler gutes Geld verdienen wollten, klagt er.
Deswegen sprechen sich immer mehr Wissenschaftler für eine Digitalisierung der Bibliotheken aus. Viele Forscher veröffentlichen ihre Untersuchungsergebnisse inzwischen nur noch im Internet.
„Open Access“ lautet das englische Schlagwort für diese Entwicklung. Jeder soll zu allen Informationen ungehinderten Zugang haben.
Dieses Prinzip hat die Harvard Universitiy aufgegriffen.Eine vollständige Digitalisierung ihrer Universitätsbibliothek hat die US-amerikanische Universität im Frühjahr 2008 angekündigt. Die renommierte Elite-Universität will ihre gesamten Bibliotheksbestände digitalisieren und 16 Millionen Bücher und Zeitschriften ins Netz stellen. Alle neuen Veröffentlichungen der Universitätsangehörigen sollen von Vornherein über das Internet publiziert werden.
Auslöser dieser Aktion war Verärgerung der Hochschule über die Preise für wissenschaftliche Publikationen. Die Universität müsse Veröffentlichungen ihrer eigenen Angehörigen von den entsprechenden Fachverlagen teuer einkaufen, um sie dann für die weitere wissenschaftliche Arbeit nutzen zu können.
Über das Internet hingegen erhalten Interessierte freien Zugang zu allen Forschungsergebnissen von Harvard-Autoren. Über deren Authentizität und Korrektheit wacht künftig das eigens gegründete „Bureau for scholar Communication“.
Auch viele deutsche Universitäten veröffentlichen Forschungsergebnisse seit Jahren bereits über das Internet. Doktorarbeiten können beispielsweise als PDF-Datei online gestellt werden. Sie müssen dem Prüfungsamt nur noch in drei Ausdrucken vorgelegt werden.
Über diese Maßnahme geht eine Digitalisierung der Bibliotheken aber weit hinaus. Tausende von gedruckten Büchern werden eingescannt und auf Datenträgern erfasst. Am Ende steht das Wissen dann nicht mehr auf Papier in langen Regalreihen, sondern es findet sich in einer elektronischen Datenbank.
Angestoßen hatte diese Entwicklung bereits im Dezember 2004 die Internet-Suchmaschine „Google“. Sie vereinbarte damals mit den Universitäten Harvard, Stanford, Michigan, New York und Oxford eine vollständige Digitalisierung ihrer gesamten Bibliotheksbestände. Ziel dieser digitalen Erfassung ist die Einbeziehung der vollständigen Buch-
und Zeitschriftentexte in die Internet-Suche. In Sekundenschnelle stehen damit alle Inhalte der eingescannten Publikationen allen Nutzern des Internets zur Verfügung.
Skeptiker warnen jedoch vor den Schattenseiten der Digitalisierung von Bibliotheken. Dr. Uwe Jochum von der Universitätsbibliothek Konstanz spricht gar von einer „Bibliothekskatastrophe“. Er vergleicht die Digitalisierung von Bibliotheken mit dem Brand der Anna-Amalie-Bibliothek in Weimar. Gerade deutsche Universitätsbibliotheken gäben viel Geld aus, um ihre Buch-
und Zeitschriftenbestände einzuscannen. Dieses Geld fehle dann jedoch auf der anderen Seite bei der Anschaffung neuer Titel.
Allerdings ist diese Geldnot schon ein älteres Problem. Deutschen Büchereien stehen meist nur Bruchteile der Mittel zur Verfügung, die US-amerikanische Hochschulen ihren entsprechenden Einrichtungen zubilligen.
So befinden sich viele deutsche Büchereien in einem schier ausweglosen Teufelskreis: Ihre Mittel zur Anschaffung von Büchern und Zeitschriften reichen angesichts steigender Preise kaum mehr aus, denn Publikationen werden immer teurer. Bestellen mehrere Bibliotheken aus Geldmangel die eine oder andere wissenschaftliche Zeitschrift ab, so sinkt deren Auflage. Der Preis steigt nun weiter, was wiederum weitere Abbestellungen zur Folge hat.
Viele Bibliothekare sehen in einer Digitalisierung ihrer Bestände den einzigen Ausweg. Alles andere droht ihnen auf Dauer finanziell über den Kopf zu wachsen.
Immer deutlicher zeichnet sich nach alledem ein Trend ab, der wissenschaftliche Bibliotheken in elektronische Wissens-Datenbanken verwandelt. Währenddessen werden klassische Büchereien mehr und mehr zu Bücher-Museen, die wertvolle alte Erstausgaben aufbewahren und pflegen.
Für Blinde und Sehbehinderte ist das eine erfreuliche Entwicklung. Ihnen eröffnen sich dadurch ungeahnte Informationsmöglichkeiten.
Eines wird trotz aller Digitalisierungsbestrebungen jedoch auch in mittlerer Zukunft ganz gewiss nicht geschehen: Kein Computer wird das gedruckte Buch vollständig aus der Welt verdrängen können!
[ end]